Hochsensibilität und Berufung

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielleicht kennst Du das auch. Du sitzt in einem Großraumbüro, um Dich herum Stimmengewirr, das Klappern von Tastaturen vermischt sich mit der surrenden Deckenbeleuchtung, die Atmosphäre ist hektisch. Die Luft wird immer stickiger, von außen dringt durch die geschlossenen Fenster Baustellenlärm hinein.

Dein Chef macht Druck und möchte unbedingt, dass Du ein zusätzliches Projekt noch heute fertigstellst – notfalls mit Überstunden. Der Pitch-Termin beim Kunden ist bereits für morgen angesetzt, die Konkurrenz schläft schließlich nicht. Dabei hast Du Dein Limit schon längst erreicht…

Hochsensibilität im Job

Die wenigen Jahre, in denen ich nach der Bank und meinem Studium noch angestellt war, war ich in der Weiterbildungsbranche tätig und habe dort viele ähnliche Situationen erlebt. Damals habe ich noch nicht verstanden, warum es von den vielen Menschen um mich herum, nur mir etwas auszumachen schien und nur für mich so sehr anstrengend war. Und ich habe mir natürlich nichts anmerken lassen und versucht, damit klar zu kommen.

Die beschriebenen Arbeitsbedingungen sind in vielen Unternehmen Alltag. Vielleicht mag es sogar Menschen geben, die dadurch zu Höchstleistungen angetrieben werden (viele werden es vermutlich nicht sein), aber für Hochsensible ist ein solches Arbeitsumfeld im wahrsten Sinne des Wortes toxisch.

Nicht nur, dass sie dort nicht die Arbeitsleistung erbringen können, zu der sie eigentlich fähig sind – auf Dauer machen sie diese Arbeitsbedingungen sogar krank.

Auf das Arbeitsumfeld achten

In einem entspannten, wertschätzenden Arbeitsklima, in dem sie erfüllenden Tätigkeiten nachgehen, blühen Menschen auf. Das gilt für Hochsensible wie für Normalsensible gleichermaßen. Für hochsensible Menschen ist es darüber hinaus besonders wichtig, dass auch das Arbeitsumfeld ihrem Naturell entspricht.

Doch warum verharren Hochsensible oft in belastenden Arbeitssituationen, die nicht gut für sie sind, anstatt ihre besonderen Fähigkeiten und Stärken einzusetzen und ihre Berufung zu leben?

Stecken sie bereits zu lange in einem kräftezehrenden Arbeitsumfeld fest, fehlt ihnen zunehmend die Energie, sich etwas Neues zu suchen. Oder sie fürchten, mit ihrer allzu feinen Wahrnehmung der heutigen Arbeitswelt ohnehin nicht gewachsen zu sein und bei der nächsten Firma vom Regen in die Traufe zu kommen.

Oftmals versuchen Hochsensible auch lange Zeit, den Erwartungen zu entsprechen und „normal“ zu sein, bevor sie sich selbst und ihr Wesen annehmen und ihr eigenes Potenzial leben. So wie ich selbst es auch viele Jahre getan habe.

Das hochsensible Potenzial

Dabei sind gerade Hochsensible mit ihrer Fähigkeit, sich und die Welt in allen Facetten wahrzunehmen und zu reflektieren, prädestiniert dafür, ihre Berufung zu finden (und auch zu leben).

Mehr als andere treibt sie die Suche nach dem Sinn an, und sie verspüren oft den Wunsch, einen wertvollen Beitrag in der Welt zu leisten. Dass dies mit den Arbeitsbedingungen in vielen nicht gerade auf Nachhaltigkeit ausgelegten Unternehmen nicht kompatibel ist, liegt auf der Hand.

Von der Unzufriedenheit im Job oftmals noch stärker betroffen als andere, wünschen sie sich eine Tätigkeit, die zu ihnen passt und ihren Stärken entspricht.

Der erste Schritt

Für viele Hochsensible ist es ein sinnvoller erster Schritt, Frieden mit ihrer Vergangenheit zu machen und sich von dem zu lösen, was ihnen ihrem Leben in Unkenntnis der feinen Wesensart und Wahrnehmung vermutlich schon oft entgegengebracht wurde. Und möglicherweise als fest verankerter Glaubenssatz verinnerlicht wurde: „Du bist zu empfindlich/zu verletzlich/nicht belastbar/nicht normal/siehst Gespenster“ und dergleichen mehr.

Sobald Hochsensible lernen, ihr Wesen zu schätzen, öffnen sie sich ganz automatisch für das ungeheure Potenzial, das darin steckt und somit auch für ihre Berufung.

Je eher sie aufhören, sich an den Kriterien normalsensibler Menschen zu messen, desto besser finden sie Zugang zu sich selbst. Und gewinnen das nötige Selbstvertrauen, das zuvor vielleicht abhanden gekommen war.

Entspricht Dir Dein Beruf oder brauchst Du einen Neustart?

Oft werden Hochsensible sich an diesem Punkt darüber klar, welche Wünsche ihre eigenen und welche nur durch die Erwartungshaltung anderer entstanden sind. Und stellen dann vielleicht – unabhängig von einem widrigen Arbeitsumfeld – fest, dass der seit Jahren ausgeübte Beruf ihnen gar nicht wirklich entspricht.

Ob das auch auf Dich zutrifft, kannst Du leicht feststellen, wenn Du die folgenden Fragen ehrlich für Dich beantwortest:

  • Hast Du besondere Fähigkeiten, die Du eigentlich gerne leben würdest – die Du aber versteckst, weil Du dafür früher kritisiert worden bist oder andere sie nicht für wertvoll hielten?
  • Hast Du Dich für Deinen Beruf (oder den aktuellen Job) entschieden, weil Du glaubtest, etwas anderem oder der Arbeitswelt im Allgemeinen nicht gewachsen zu sein?
  • Hast Du Deinen Beruf gewählt, um Dich anzupassen – und möglichst unauffällig so zu sein wie alle anderen?
  • Gibt es etwas außerhalb Deiner Arbeit, das Du liebend gerne tust und das Dir sehr entspricht?

Falls es ein überzeugtes „Ja“ beim letzten Punkt gibt, ist dies ein wichtiger Hinweis auf Deine Berufung. In dem Fall, gib dem Raum und finde heraus, wie Du mehr davon in Dein Leben bringen und es vielleicht auch zum Beruf machen kannst.

Alles Liebe für Dich
Deine Angelika Gulder